Forum "Kind im Fokus"

(An-)Forderungen an ein kindgerechtes Familien(verfahrens)recht in Deutschland

12. Mai 2023

Es war das bereits das zweite Mal, dass die Arbeitsgemeinschaft Familienrecht im DAV zu einer Forums-Veranstaltung in die Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt einlud. Während es allerdings 2016 allein um das Abstammungsrecht ging, stand in diesem Jahr insgesamt das "Kind im Fokus". Die Forums-Veranstaltungen beleuchten regelmäßig Reformbedarf im Familienrecht und so wolle man sich in diesem Jahr, wie der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Jochem Schausten einleitete, der Frage widmen, ob und wenn ja wo Änderungen im Kindschafts-, im Kindesunterhalts- und im entsprechenden Verfahrensrecht erforderlich sind.

BMJ: Reformen werden angegangen

Aus dem Bundejustizministerium konnte Ministerialdirigentin Ruth Schröder, Leiterin der Abteilung I Bürgerliches Recht, für ein Grußwort gewonnen werden. Reformen seien unbestritten notwendig und mehr als überfällig, betonte sie. Familienstrukturen hätten sich geändert, seien bunter und moderner geworden. Patchwork- beziehungsweise Regenbogen-Familien oder auch die geteilte Verantwortung und Betreuung des Kindes vor und nach einer Trennung seien heute Normalformen, in denen Familien lebten. Das Recht allerdings sei dem nicht nachgekommen, beklagte Schröder. Das gehe – auch wenn die Lebenswirklichkeit längst anders aussehe – immer noch von einer Hausfrauenehe und dem Dictum "Einer betreut, einer bezahlt" aus. Im Bundesjustizministerium sei man sich dessen bewusst – die Vorbereitungen für entsprechende Gesetzesentwürfe liefen bereits.

Wer betreut wie viel?

Wie es tatsächlich in der Realität aussieht, hat sich Professor Dr. Kirsten Scheiwe von der Universität Hildesheim genauer angeschaut. Sie hatte untersucht, wer heutzutage in der Regel für Kinder sorgt, von wem und wie sie betreut werden und wie sich das in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten verändert hat. Der Bogen, den sie dabei schlug, reicht von den Anfängen des letzten Jahrhunderts, als die eheliche "Gewalt" und die Unterhaltspflicht bei den Vätern lag, die Personensorge dagegen von den Müttern "ausgeübt" wurde, bis hin zum Hier und Jetzt. Professor Scheiwe beleuchtete anhand von zahlreichen Statistiken, dass sich im Rollenverständnis zwischen den Eltern zwar Vieles verbessert habe, aber die Gesellschaft von einer echten tatsächlichen Gleichstellung noch deutlich entfernt sei. – egalitäre Betreuungsmodelle nach und vor Trennungen seien nach wie vor selten. Sie beschreibt den so genannten gender care gap: Insbesondere bei zusammenlebenden Eltern finde nach der Geburt eines Kindes häufig eine "Retraditionalisierung" statt, weil Mütter ihre Erwerbstätigkeit reduzierten oder ganz aufgeben und/oder mehr Aufwand in die Kinderbetreuung investieren würden. Nach Angaben von Destatis arbeiteten 55 Prozent der Mütter mit reduziertem Erwerbsumfang, 17 Prozent würden ihre Berufstätigkeit ganz aufgeben. Hier sei die Politik gefordert, meint Scheiwe, bisher gebe es noch zu viele widersprüchliche Anreize wie beispielsweise das Ehegattensplitting.

Ergebnisse der Mitgliederbefragung

Auch die diesjährige Mitgliederbefragung widmete sich den drei Themenkomplexen, die in der Forumsveranstaltung behandelt wurden: Das Kindschaftsrecht, das Kindesunterhaltsrecht und das Verfahrensrecht in Kindschaftssachen. So wurde unter anderem abgefragt, wie sich eine paritätische Betreuung beziehungsweise ein erweiterter Umgang auf Unterhalt, Unterhaltsvorschuss und Kindergeld auswirken sollten. Bemerkenswert bei den Umfrageergebnissen zum Kindschaftsrecht ist, dass sich jeweils etwa die Hälfte der Antwortenden, dafür beziehungsweise dagegen aussprachen, dass künftig mit der Feststellung der Elternschaft beide Eltern kraft Gesetzes Inhaber des gemeinsamen Sorgerechtes sein sollten. Eine ausführliche Auswertung der Mitgliederumfrage ist in der Zeitschrift "Forum Familienrecht veröffentlicht, der Arbeitsgemeinschaft Familienrecht unter https://anwalt.familienanwaelte-dav.de/de/fortbildung/deutscher-anwaltstag zu finden.

Reformbedarf im Kindschaftsrecht

Nach den einleitenden Überblicksvorträgen begann der erste Themenkomplex, in dem es um Reformideen im Kindschaftsrecht ging, mit einem Blick ins Ausland durch Professor Anatol Dutta von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Das deutsche Abstammungsrecht liege hier im Vergleich "um Jahrzehnte zurück" konstatierte er.

Auch Prof. Dr. Isabell Götz, Vorsitzende Richterin am OLG München stellt einen erheblichen Reformbedarf beim deutschen Kindschaftsrecht fest, für den nicht zuletzt auch die Zunahme entsprechender Verfahren spricht. Das gelte insbesondere für Fragen rund um die geteilte Betreuung, aber auch bei der Berücksichtigung häuslicher Gewalt bei der Regelung von Umgang und Sorge. Außerdem spricht sie sich nachdrücklich dafür aus, das Kindschaftsrecht insgesamt neu zu gliedern, um die Plausibilität und Nachvollziehbarkeit zu verbessern.

Reformbedarf im Kindesunterhaltsrecht

Auch für den zweiten Themenkomplex – Reformideen im Kindesunterhaltsrecht – schaute sich Professor Dutta zunächst die Situation in anderen europäischen Ländern an. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen seien im Unterhaltsrecht allerdings nicht so groß wie in anderen Rechtsgebieten, sagte er. Dass Eltern für ihre Kinder sorgen müssten, sei im Grundsatz überall Konsens. Bei der konkreten Bemessung des Unterhaltes könnte aber beispielsweise Frankreich als Anregung dienen, meint Professor Dutta. Hier würde sehr viel flexibler auf den Einzelfall geschaut und weniger – wie in Deutschland – auf standardisierte Berechnungsformeln gesetzt.

Der Oldenburger Rechtsanwalt und Notar a.D. Wolfgang Schwackenberg, früherer langjähriger Vorsitzender des DAV-Gesetzgebungsausschusses Familienrecht und Ehrenmitglied in der Arbeitsgemeinschaft Familienrecht, erläuterte im Anschluss das deutsche System der Unterhaltsberechnung und gab Anregungen für Reformen. So sollte der Umfang der Barunterhaltsverpflichtungen an die Betreuungsanteile angepasst werden, insbesondere wenn ein erweiterter Umgang praktiziert wird. Dabei sollte gesetzlich festgehalten werden, so Schwackenberg, bis zu welchem Betreuungsanteil von einer Erfüllung der Unterhaltsverpflichtung iSd. § 1606 III 2 BGB auszugehen ist und ab welchem Betreuungsanteil die Grundsätze eines paritätischen Wechselmodells anzunehmen sind. Außerdem schlägt er vor, über eine mögliche Änderung bei der Berechtigung zum Kindergeldbezug nachzudenken. Sollte aber das Kindergeld wie bisher auch weiterhin nur an einen Elternteil ausgezahlt werden, bedürfe es der klaren gesetzlichen Regelung darüber, wer empfangsberechtigt sei.

Reformbedarf im Verfahrensrecht

Im dritten und letzten Teil der Veranstaltung wurde der verfahrensrechtliche Reformbedarf erörtert. Auch dieser Komplex wurde wieder durch Professor Anatol Dutta eingeleitet, der auf die internationalen Trends zur Bündelung von Familienrechtsverfahren, zu einer Spezialisierung in der Rechtsprechung und zu einer stärkeren Berücksichtigung des Kindeswillens hinwies. Verbundverfahren seien auch in zahlreichen anderen Ländern bekannt und mehr und mehr gebe es eine eigene Familiengerichtsbarkeit, zumindest in der Eingangsinstanz. Auf der anderen Seite gebe es in vielen Staaten Überlegungen zur "Dejuriditionalisierung", das heißt zur Regelung von Familiensachen ohne Gerichte, so Dutta. Beispielhaft nannte er außergerichtliche Elternschaftsanfechtungen und Privatadoptionen.

Wie sinnvoll die Verbindung von Elterlicher Sorge, Umgang und Kindesunterhalt in einem Verfahren ist, stellte die Vorsitzende Richterin am OLG Frankfurt/M. Dr. Gudrun Lies-Benachib in ihrem Wortbeitrag zur Diskussion. Vieles gehe jetzt schon nach der geltenden Rechtslage, erläuterte sie, oft sei die Verbindung von elterlicher Sorge und Umgang in einem Verfahren auch nicht nur sachgerecht, sondern aus Verfahrensgründen sogar geboten. Bisher sei es allerdings noch nicht möglich, den Unterhalt miteinzubeziehen. Sie schlägt daher ein Verbundverfahren nach dem Vorbild des § 137 FamFG für Kindschaftssachen vor, dass dann auch für die Trennungszeit und auch für nichtverheiratete Paare gelten soll. Der Vorteil dabei könne sei, dass von der Beschleunigungsmaxime auch Entscheidungen im Unterhaltsrecht profitieren würden.

Auch Wolfgang Schwackenberg sieht das Verbundverfahren positiv. Insbesondere dann, wenn es eine Wechselwirkung zwischen der Betreuungszeit und dem Unterhalt gibt, läge der Nutzen, diese beiden Sachverhalte gemeinsam zu entscheiden, auf der Hand, sagt er, bevor er zu seinem eigentlichen Thema, dem Großen Familiengericht, überleitete. Der Gedanke hinter dem Großes Familiengericht: Ihm sollen alle Streitigkeiten zugeordnet werden, die den Bereich der Familie sowohl während ihres Bestandes als auch ihrer Auflösung zuzuschreiben sind. Dabei könne heute, so Schwackenberg, der Begriff der Familien nicht mehr eingeschränkt werden auf die eheliche Familie, auch Streitigkeiten zwischen nichtehelichen Partnern mussten hier miteinbezogen werden. An mehreren Beispielen erläuterte Schwackenberg anschaulich, wie bisher bei verschiedenen Personenkonstellationen die unterschiedlichen und teilweise sogar doppelten Zuständigkeiten eine sachgerechte Problemlösung behindern. Um das künftig zu verhindern, soll beim Großen Familiengericht eine umfassende Zuständigkeit eingerichtet werden, die sich am Inhalt des Streites und nicht an den Beteiligten orientieren sollte, meint Schwackenberg.

Auch in diesem Jahr gab das Forum wieder eine Vielzahl von Anregungen und Ideen und traf mit den behandelten Themen den Nerv der aktuellen rechtpolitischen Diskussion.